Von meiner Zeit in New York habe ich vieles erwartet: dass ich selbstbewusster werde, neue Seiten an mir entdecke, vielleicht mal Heimweh habe, neues für meinen Job lerne. Doch auf eine Erfahrung war ich ganz und gar nicht vorbereitet: Scham. Ich schäme mich, wenn ich durch Brooklyn fahre, wenn mir Menschen auf der Straße entgegenkommen und ich weiche Blicken in der Subway aus. Ich war mir der Tatsache bewusst, bevor ich herkam. Jedoch nicht auf das Gefühl vorbereitet, dass es in mir auslöste: New York hat eine starke jüdische Community.
Und bevor das hier falsch verstanden wird: Ich hab nichts gegen Juden! Was auch? Aber immer wenn mir jemand mit Kippa auf dem Kopf entgegenkommt, wenn ich mit dem Bus durch ein jüdisches Viertel fahre und dort Familien in die Synagoge eilen sehe, sammelt sich in meinem Magen scheinbar ein ganzer Geröllhaufen an Schuldgefühlen.
Ich schäme mich für meine Nationalität. Natürlich hatte ich selbst nichts mit den grausamen Taten des Zweiten Weltkrieges zu tun. Und doch hat mir die Geschichte eine gewisse Erbschuld hinterlassen, die mir offenbar mehr zu schaffen macht, als es mir selbst klar war. Ein paar Wochen bin ich mit dem unangenehmen Gefühl durch die Stadt gelaufen, habe versucht, es zu ignorieren und gedacht: Da gewöhnst du dich dran. Es ist nur ein befremdlicher Anblick, weil man in Deutschland nun mal nur selten Menschen ihr Judentum ausleben sieht.
Bis mir klar wurde: Es geht mir ja gar nicht um das Judentum. Es geht um meine Herkunft und die Geschichte "meiner" Nation. Und kann und will ich mich an den Gedanken eines Völkermordes gewöhnen? Wohl kaum.
Ich hab Tobi erzählt, wie seltsam es für mich ist in einem Stadtteil mir so vielen Juden zu leben. Dass ich mich irgendwie schäme und wie ein Eindringling fühle - und dass ich vermutlich lügen würde, sollte mich jemand von ihnen nach meiner Nationalität fragen.
Er reagierte irritiert: "Echt? Warum denn? Du bist weder rassistisch, noch hast du jemandem etwas getan." Warum macht das anderen nichts aus? Bin ich einfach überempfindlich?
HÄTTE ICH DOCH MAL GEFRAGT: OMA, WIE WAR DAS DAMALS?
Als Hobby-Psychologin kam ich zu dem Schluss: Es liegt daran, dass ich nicht weiß, wie viel Schuld durch meine Adern fließt. Meine Familiengeschichte ist nicht ungewöhnlich: Mein Opa war während des Krieges in Russland stationiert. Um meine Oma zu heiraten, bekam er Heimaturlaub. In der Zeit wurde seine Truppe angegriffen. Er kam in Kriegsgefangenschaft und meine Oma besuchte ihn im Gefängnis. Er kehrte nach Hause zurück, meine Mutter wurde geboren und drei Monate später fiel er von einem Baugerüst und erlag seinen schweren Verletzungen.
War mein Opa ein Nazi? Meine Oma? Oder waren sie Mitläufer? So richtig habe ich nie mit ihr darüber geredet und mein Großvater ist für mich nicht mehr als Mann mit scharfen Gesichtszügen auf einem ausgeblichenen Schwarz-weiß-Foto. Als mir meine Oma einmal erzählte, was ich hier sehr kurz zusammengefasst habe, war es für mich eine tragische Liebesgeschichte. Viele seiner Truppe sind gestorben, ihn hat der Heimaturlaub gerettet - die Liebe zu meiner Großmutter hat ihn gerettet. Zusammen haben sie den Krieg überstanden, um dann nur so kurze Zeit später durch einen dummen Unfall getrennt zu werden.
Hätte ich doch mal nachgefragt! Aber vielleicht hat mich die Angst vor der Antwort zurückgehalten. Meine liebe Oma, mit ihren blauen, den meinen so unglaublich ähnlichen Augen - ein Nazi? Niemals! Fakt ist, ich weiß es nicht. Meine Mutter weiß es nicht. Und ich kann eigentlich nur lernen, mit der vermeintlichen Erbschuld zu leben.
Vielleicht wirkt es unglaublich lächerlich, dass ich mich wegen etwas schuldig fühle, dass ich nicht selbst verbrochen habe und auf das ich keinen Einfluss nehmen konnte. Doch so ist es mir hundert Mal lieber, als wenn ich durch den Geschichtsunterricht und die Nachrichten voller Rassismus-Meldungen schon abgestumpft wäre. Lieber habe ich einmal zu viel ein schlechtes Gewissen, als überhaupt keines mehr.