BOOK: KAFKA AM STRAND

1/12/2017

"Aber mit Vergangenem ist es wie mit zerbrochenem Geschirr. Es gibt kein Mittel, es wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen."



Magischer Realismus ist die Verbindung von fantastischen und realistischen Elementen zu mystischen Geschichten. Durch die Verfremdung der Wirklichkeit bekommt der Leser eine neue Sichtweise auf unsere Welt. Diese Art der Literatur war zuerst in Europa und nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Südamerika vertreten. Der magische Realismus ist eine der kreativsten Daseinsformen der zeitgenössischen Weltliteratur. Heute möchte ich euch einen zeitgenössischen Roman vorstellen, der magischen Realismus par excellence bietet: Kafka am Strand von Haruki Murakami, erschienen im btb Verlag.

Inhalt: Der 15-jährige Kafka Tamura reißt von zu Hause aus und flüchtet vor einer düsteren Prophezeiung seines Vaters auf die Insel Shikoku. Seine abenteuerliche Reise führt ihn in eine fremde Stadt, wo er der faszinierenden Bibliotheksleiterin Saeki begegnet und ihr verfällt. Er macht die Bekanntschaft mit einem geheimnisvollen alten Mann, der mit Katzen sprechen kann, und gleitet ab in eine fremde, seltsame Welt. Was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Wo endet diese Reise voller rätselhafter Begegnungen und labyrinthischer Wege?

Meinung: Für mich ist Kafka am Strand das zweite Buch, welches ich von Haruki Murakami lese. Der Roman Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki hat mich bereits 2013 in seinen Bann gezogen. Mit Kafka am Strand hat der Autor eine noch größere Faszination auf mich ausgeübt.

Wenn es plötzlich anfängt, Fische zu regnen; Wenn ein Mann mit dem Namen Johnny Walker Katzen aufschlitzt, ihre noch pulsierenden Herzen isst, um aus ihren Seelen eine Flöte zu bauen; wenn auf einmal Colonel Sanders, die Kentucky-Fried-Chicken-Figur, zum Leben erwacht und hübsche Mädchen vermittelt;wenn eine Frau von zwei übereifrigen Feministinnen als chauvinistischer Prototyp einer patriarchalen Gesellschaft beschimpft wird. In all diesen Fällen kann es sich eigentlich nur um einen Roman Haruki Murakamis handeln, der als ein Hauptvertreter postmoderner japanischer Literatur gilt.

Der 2002 veröffentlichte Roman "Kafka am Strand" besteht aus zwei Erzählsträngen. Der hochintelligente Kafka Tamura reißt mit 15 Jahren von zu Hause aus. Sein Vater ist ein Workaholic, der sich nicht um ihn kümmert und seine Mutter hat die Familie zusammen mit seiner Schwester verlassen, als Kafka vier Jahre alt war. Auf seltsamen Wegen lernt er Oshima kennen, der in einer Bibliothek arbeitet. Schon bald fühlt sich Kafka zu der introvertierten, aber höchst attraktiven Bibliotheksleiterin Saeki hingezogen, die mehr als dreißig Jahre älter ist als er.

Nakata kann weder lesen noch schreiben, hat noch nie seine Heimatstadt verlassen oder mit einer Frau geschlafen und spricht von sich selbst nur in der dritten Person. Dafür kann er mit Katzen sprechen und verdient sich ein Zubrot als Detektiv für verlorengegangene Katzen. So macht er die unerfreuliche Bekanntschaft mit dem Katzenmörder Johnny Walker, in Folge dessen er sich auf den Weg in eine andere Stadt macht, ohne zu wissen, was er da überhaupt will. Auf seinem Weg trifft er den lebenslustigen Fernfahrer Hoshimo, der sich kurzentschlossen entschließt, den seltsamen alten Kauz auf seiner Reise ohne Ziel zu begleiten.

"Kafka am Strand" zieht den Leser unweigerlich in seinen Bann. Der Vorwurf, dass Murakamis Bücher ob ihrer höchst obskuren Begebenheiten nicht oder nur schwer verständlich seien, ist schlicht nicht zutreffend. Genau das Gegenteil ist der Fall. Hat man sich einmal auf die Geschichte eingelassen, bietet der Roman eine optimale Projektionsfläche, die keinen Leser mehr loslässt, da sich jeder auf irgendeine Art und Weise in den teils absurden, übernatürlichen Ereignissen wiederfinden kann. Dies ist ja auch das besondere an den Romanen Franz Kafkas, die gerade wegen ihrer auf den ersten Blick verwirrend erscheinenden Struktur die gesamte kognitive Vorstellungskraft des Lesers erfordern. Und ein Leser erkennt nun einmal nur das, was ihn selbst beschäftigt.

Was zeitweilig etwas störend wirkt, sind die sporadischen Ausflüge ins Reich der Kalenderblättchenphilosophie. Sätze wie: "Die Konturen meines Ichs schieben sich übereinander und rasten mit einem leisen Klicken ein" (78) oder "Nicht der Mensch bestimmt sein Schicksal, sondern sein Schicksal bestimmt ihn" (274) glänzen nicht gerade vor philosophischer Tiefenschärfe. Aber das kann auch an der Übersetzung vom Japanischen ins Deutsche liegen. Dafür bietet der Roman meiner Ansicht nach auch eine Vielzahl von sehr gelungenen rhetorischen Bonmots, die essentielle Fragestellungen des Menschen knapp, präzise und höchst verständlich auf den Punkt bringen: "In Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis: Die reine Gegenwart ist das unfassbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt" (372).

Fazit: Toller Roman, der zum Nachdenken anregt und dabei bestens unterhält. Und das ist es doch schließlich, was gute Literatur ausmachen sollte. 

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