BOOK: WIE DER SOLDAT DAS GRAMMOFON REPARIERT
10/22/2016
"Glas ohne Sprung. Hände drücken einen Lichtschalter. Selbstporträt mit beiden Opas. Spiegelbild. Als alles gut war."
Dzień dobry! Klingt wie Chinesisch? Ist es aber nicht, sondern Polnisch. Und genau wie Polen sind die meisten Länder Osteuropas, abgesehen von Russland, weniger bekannt - vor allem scheinen sie in Büchern nur selten eine Rolle zu spielen. Das ist sehr schade, denn Osteuropa hält eine Menge spannender und faszinierender Schauplätze bereit, von denen Liebesromane, Fantasy-Schmöker und spannende Thriller nur profitieren können! Auch die Mentalität dieser Länder sorgt für einen ganz besonderen Charme und Charaktere, die begeistern. Heute möchte ich euch einen Roman vorstellen, der in Osteuropa spielt. Dabei handelt es sich um Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić, erschienen im Luchterhand Verlag. Nächste Woche Mittwoch, also am 26.10.2016, findet übrigens eine Lesung des Autors hier in Berlin, im Rahmen des globale° - Festival für grenzüberschreitende Literatur statt.
Inhalt: Als der Bürgerkrieg in den 90er Jahren Bosnien heimsucht, flieht der junge Aleksandar mit seinen Eltern in den Westen. Rastlos neugierig erobert er sich das fremde Deutschland und erzählt mit unbändiger Lust die irrwitzigen Geschichten von damals, von der großen Familie und den kuriosen Begebenheiten im kleinen Višegrad. Aleksandar fabuliert sich die Angst weg und "Die Zeit, als alles gut war" wieder herbei.
Meinung: Das Buch ist der schönste und beste Beweis dafür, das exzellente Literatur manchmal mehr leisten kann als zig Sachbücher und Nachrichtensendungen. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien sind doch an den meisten von uns vorbeigerauscht - zu kompliziert, zu traurig, zu beängstigend. Mit seinem Aleksandar und seinen anderen Figuren hat Stanišić Helden geschaffen, die in der Lage sind, Herzen von Lesern weltweit zu bewegen - gerade, weil sie so in ihrer Heimat verwurzelt sind - im Guten wie im Bösen.
Nur sind gut und böse simple Kategorien und simpel ist Stanišićs Roman keinesfalls, auch wenn er Züge eines Schelmenromans à la Simplicissimus aufweist. Denn wie bei jenem grandiosen Epochengemälde aus dem 30-jährigen Krieg, liegen auch bei Stanišić das Heitere, das Groteske und das Schreckliche eng beieinander.
Einige Szenen werden den Leser nie mehr verlassen, etwa das Fußballmatch, das sich Serben und Bosnier während einer Gefechtspause auf dem Schlachtfeld liefern. Meisterhaft beschreibt Stanišić wie Hass und Krieg in eine scheinbare Idylle eindringen. Eine erste Vorahnung gibt es schon bei einem fröhlichen Fest auf dem Lande, als einer der serbischen Gäste sich über den "türkischen Zigeunerdreck" ereifert, den die Musiker spielen.
Ein Qualitätsmerkmal eines wunderbaren Buches ist, dass es nie, wie ein Schundroman, alle Fragen beantwortet, sondern die richtigen Fragen offen lässt. Mich hat dieses Buch so bewegt, dass ich nun zum Beispiel gerne mehr darüber wissen möchte, wie ein Arzt und Psychiater wie Radovan Karadzic sich zu einem Kriegsverbrecher entwickeln konnte.
Ich wünsche Stanišićs tragikkomischen Roman noch viele Leser, die sich nicht von der Thematik abschrecken lassen sollten. Man wird mit der Lektüre eines grandiosen Buches belohnt, das man nicht mehr vergisst.
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